Mit Cobot und KI: Labore trotzen der Probenflut
Labordiagnostik ist das Rückgrat der modernen Medizin. Vom Bluttest bis zur Molekularbiologie – fehlerfreie und schnelle Ergebnisse sind essenziell. Da das Probenaufkommen steigt und Fachkräfte rar sind, stoßen traditionelle Laborprozesse an ihre Grenzen. Die Branche setzt verstärkt auf Vernetzung.
Die Anforderungen an die medizinischen Labore nehmen stetig zu. Demografischer Wandel und wachsendes Gesundheitsbewusstsein führen zu einem erhöhten Bedarf an Diagnostik. Deutlich mehr als eine Milliarde Laboruntersuchungen sollen hierzulande jährlich durchgeführt werden. Nach Auskunft des Berufsverbands der Akkreditierten Medizinischen Labore in Deutschland (ALM e.V.) – er vertritt über 200 Unternehmen mit mehr als 1.000 Fachärzten, rund 500 Naturwissenschaftlern und etwa 25.000 Mitarbeitern – beruhen zwei von drei Diagnosen auf labormedizinischen Untersuchungen oder werden durch diese bestätigt.
Treiber des Automatisierungstrends
Gleichzeitig kämpfen viele Labore mit begrenzten personellen Ressourcen und steigenden Kosten. Darüber hinaus sehen sich viele von ihnen mit Budgetkürzungen konfrontiert. Eine aktuelle Umfrage des Laborausstatters Starlab in fünf europäischen Ländern zeigt, dass in vielen Laboren der Life-Science-Branche bereits Einsparmaßnahmen umgesetzt wurden.
Der Automatisierungsdruck hat also viele Ursachen: „Die entscheidenden Treiber sind Effizienz, Durchsatz und Kosten“, erklärt Andreas Traube, Leiter des Geschäftsbereichs Gesundheitsindustrie und Life Sciences am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA). Traube forscht seit über 20 Jahren zu diesem Thema, berät die Industrie bei der Entwicklung von Laborgeräten und die Labore bei deren Implementierung. „In Deutschland werden täglich mehrere Millionen Laborproben analysiert – manuelle Prozesse wären hier schlicht nicht machbar und auch viel zu teuer. Gleichzeitig verbessert die Automatisierung die Prozessqualität. Während menschliche Handgriffe variieren, führen Maschinen dieselben Abläufe immer exakt gleich durch. Das erhöht die Verlässlichkeit von Diagnosen“, sagt der Experte.
Andreas Traube, Leiter des Geschäftsbereichs Gesundheitsindustrie und Life Sciences am Fraunhofer IPA © Fraunhofer IPA
Mit dem AutoAnalyzer fing es an
Der Trend zur Automatisierung der Labordiagnostik hat bereits eine lange Geschichte, die bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zurückreicht. Erste mechanisierte Geräte zur Blut- und Urinanalyse erleichterten die Arbeit der Labore. Ein Meilenstein war die Entwicklung des AutoAnalyzers in den 1950er Jahren, der erstmals eine kontinuierliche Blutanalyse ermöglichte. Es zeigte sich, dass standardisierte, maschinell gesteuerte Prozesse nicht nur schneller, sondern auch weitgehend fehlerfrei ablaufen.
In den 1970er Jahren kamen erste vollautomatische Systeme auf den Markt, insbesondere für Hämatologie und klinische Chemie. Diese Entwicklungen ebneten den Weg für computergesteuerte Analysegeräte, die sich in den 1980er Jahren etablierten und erstmals eine großflächige Automatisierung in Laboren ermöglichten. Die Vernetzung von Analysegeräten mit Laborinformations-Managementsystemen (LIMS) hat dann in den 1990er Jahren einen weiteren großen Sprung nach vorn gemacht, wodurch viele manuelle Eingriffe überflüssig wurden.
Mit der Digitalisierung in den 2000er Jahren wurde die Automatisierung auf eine neue Stufe gehoben. Hochdurchsatz-Sequenzierungsgeräte, automatisierte PCR-Analysesysteme und robotergestützte Probenhandhabung revolutionierten die molekulare Diagnostik. Heute sind die Module und Systeme von Herstellern wie Roche, Sartorius oder Siemens Healthineers und Roboter, etwa von ABB oder Festo, im täglichen Einsatz unverzichtbar.
Vernetzung als Thema der Zukunft
Und doch besteht noch erhebliches Automatisierungspotenzial. So müssen in naher Zukunft Lösungen für das Problem gefunden werden, dass viele Laborautomaten nicht vollständig vernetzt sind. Andreas Traube: „Wir haben oft sogenannte Inselautomaten – also Geräte, die einzelne Arbeitsschritte übernehmen, während Verkettung, Logistik und auch Informationsverarbeitung noch manuell erfolgt.“
Handlungsbedarf besteht gerade im Bereich der IT-Infrastruktur der Labore, sagt Jan Kirchhoff, Mitgründer und Co-Geschäftsführer des Karlsruher Start-ups Medicalvalues: „Labore sind eigentlich die Vorreiter in der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Insbesondere bei Routineuntersuchungen ist die Automatisierung bereits sehr weit fortgeschritten. Wo es spannend wird, ist die Integration von spezialisierten Diagnostikbereichen wie Pathologie oder Genetik in die digitalen Systeme. Der nächste Schritt ist, die Datenflüsse und die Diagnostikprozesse ganzheitlicher zu vernetzen, um noch bessere und schnellere Entscheidungen zu ermöglichen“, so seine Überzeugung.
Jan Kirchhoff, Mitgründer und Co-Geschäftsführer von Medicalvalues © Medicalvalues
Unterstützung bei der Interpretation von Daten
Medicalvalues entwickelt und vertreibt eine Software, die Ärzten und Labormedizinern hilft, komplexe Diagnosen schneller und fundierter zu treffen. Dabei setzt das 2021 gegründete Unternehmen auch auf KI. „Unsere Lösung ist aber kein reines Machine-Learning-System, sondern ein ,Reasoning System‘, erklärt Kirchhoff. „Es kombiniert verschiedene Methoden des maschinellen Lernens mit validierten medizinischen Regeln und Scores. Zudem nutzen wir aktuelle wissenschaftliche Leitlinien und Fachliteratur, um bestehendes medizinisches Wissen in unser System zu integrieren. Die Entwicklung erfolgt in enger Zusammenarbeit mit externen Ärzten und Laboren, die uns auch bei der Verifizierung unserer Modelle unterstützen.“
Gestartet ist Medicalvalues mit der Grundüberlegung, dass Labore sehr leistungsfähig geworden sind, große Mengen hochwertiger Daten erzeugen, es jedoch häufig eine Herausforderung für die Labore, aber auch für die einsendenden Ärzte ist, die richtigen Schlüsse aus den Informationen abzuleiten. Jan Kirchhoff: „Mit unserem System unterstützen wir jeden Prozessschritt von der Entscheidung, welches die richtigen Laborparameter sind, über die Befundung durch Laborärzte bis hin zu den Folgerungen, die aus den Daten zu ziehen sind: Wie ist eine lange Kette von Zahlen zu interpretieren, welche weiteren Tests sind notwendig, welche Tests nicht? Unsere Erfahrung mit komplexen IT-Infrastrukturen hilft uns dabei, die Interoperabilität effizient umzusetzen. Wichtig ist: Wir unterstützen immer, aber wir ersetzen an der Stelle nicht den Arzt.“
Medicalvalues kooperiert inzwischen mit Laboren jeder Größe – von Ketten wie Amedes bis hin zu spezialisierten Einrichtungen wie dem Werlhof-Institut für Gerinnungsmedizin. Auch Kliniken gehören zu den Kunden, darunter Universitätskliniken und Krankenhäuser wie das Dietrich-Bonhoeffer-Klinikum in Neubrandenburg.
Hindernisse für die Automation
Eine Schwierigkeit bei der Automatisierung von Laboren sind gewachsene Strukturen und Defizite bei der Standardisierung von Geräteschnittstellen und Verbrauchsmaterialien: Viele Labore setzen Analysegeräte verschiedener Hersteller ein, die nicht nahtlos miteinander kommunizieren, obwohl das technisch inzwischen möglich ist. Andreas Traube: „Natürlich können Hersteller einen Vorteil daraus ziehen, bestimmte Standards gar nicht oder nur eigene Standards zu bedienen. Ich rate daher Anwendern, die in die Automatisierung ihres Labors investieren wollen, auf diesen Faktor Acht zu geben.“
Ein anderes Hindernis: Oft werden uneinheitliche Probenröhrchen verwendet, was für den Einsatz von Robotern ungünstig ist, weiß Andreas Traube. „Während man in der industriellen Automatisierung Produkte an Maschinen anpasst, muss sich in der Laborautomatisierung die Maschine an die bestehenden Materialien anpassen – und das ist eine enorme technische Herausforderung. Ein Beispiel dafür ist die Vielfalt an Röhrchen, die nicht nur in Größe und Form variieren, sondern auch unterschiedliche Kappen, Etikettierungen und Materialbeschaffenheiten haben – Faktoren, die automatisierte Systeme erst erkennen und verarbeiten müssen“, beklagt der Fraunhofer-Experte.
Cobots und KI eröffnen neue Möglichkeiten
Andreas Traube hebt hervor, dass Robotik nicht nur repetitive Aufgaben übernehmen kann, sondern zunehmend intelligente Funktionen ausführt: „Ein Roboter im Labor muss nicht nur eine einzige Aufgabe erledigen, sondern verschiedene Tätigkeiten beherrschen. Außerdem setzen wir auf mobile Robotik, die flexibel Proben transportieren kann.“
Smarte Roboter für mehr Flexibilität im Laboralltag © ABB
Das Fraunhofer IPA unterstützt Hersteller dabei, neue Robotiklösungen für den Laboreinsatz zu entwickeln. Die Expertise des Instituts nutzen nicht nur jene Maschinenbauer, die bereits ein Standbein in der Medizintechnik haben: „Viele klassische Automatisierungsunternehmen kommen aus anderen Industriebranchen und wollen in den Medizintechnikmarkt einsteigen. Wir unterstützen sie mit Testumgebungen und Machbarkeitsstudien und helfen, ihre Technologien an die besonderen Anforderungen im Laborumfeld anzupassen“, berichtet Traube. Besonders gefragt sind aktuell kollaborative Roboter, Cobots, die direkt mit Menschen interagieren und so völlig neue Möglichkeiten der Automatisierung eröffnen.
Auch Jan Kirchhoff ist überzeugt davon, dass zusätzliche Robotik sinnvoll ist, erwartet aber nicht, dass sie alle Herausforderungen der Automatisierung lösen wird. „Ich sehe drei große Entwicklungen in den nächsten Jahren: Erstens wird KI nicht nur Diagnosen unterstützen, sondern auch im Softwareentwicklungsprozess eine Rolle spielen, indem sie Fehler schneller erkennt und automatisierte Qualitätssicherung ermöglicht. Zweitens wird sich die Interoperabilität verbessern – hoffentlich durch regulatorische Vorgaben, die offene Standards fördern. Drittens werden Patienten durch die elektronische Patientenakte mehr Zugriff auf ihre Daten haben, was wiederum die Präzisionsmedizin und Prävention vorantreiben kann. Entscheidend ist, dass wir es schaffen, alle Bevölkerungsschichten in diesen Fortschritt mitzunehmen.“
Enge Zusammenarbeit der Akteure erforderlich
Auf weitere erhebliche Fortschritte in der Robotik durch KI setzt Andreas Traube: „Die Robotik wird intelligenter, autonomer und vielseitiger. Technisch ist es heute bereits möglich, dass Roboter viele der manuellen Tätigkeiten im Labor übernehmen. Noch ist das nicht in jeder Hinsicht wirtschaftlich, aber wir bewegen uns in diese Richtung. Ein besonders spannendes Thema ist dabei die Entwicklung von Robotern, die selbstständig erkennen, welche Aufgabe als Nächstes ansteht, anstatt nur vordefinierte Befehle abzuarbeiten – ein echter Fortschritt hin zu adaptiven, intelligenten Systemen.“
Automatisierung verändert die Labordiagnostik grundlegend. Sie steigert die Effizienz, reduziert Fehler und entlastet Fachkräfte, die sich zunehmend auf komplexe Aufgaben konzentrieren können. Trotz bestehender Herausforderungen wie der Interoperabilität von Systemen ist die Entwicklung auf einem klaren Weg: hin zu intelligenten, vernetzten Laboren, die schnellere und präzisere Diagnostik ermöglichen. Die Kombination aus Robotik, KI und datengetriebenen Prozessen wird dabei die Zukunft der Branche bestimmen. Gleichzeitig erfordert die zunehmende Automatisierung eine enge Zusammenarbeit zwischen Laboren, Technologieanbietern und der Wissenschaft, um die Diagnostik weiterzuentwickeln und an neue Herausforderungen anzupassen.
MedtecLIVE Healthtech Pavilion: Symbiose aus Medizintechnik und Automatisierung
Eine Bühne für Unternehmen, ihre neuesten Entwicklungen im Bereich der Automatisierung einem interessierten Fachpublikum zu präsentieren, bietet der MedtecLIVE Healthtech Pavilion. Das Format ist Teil der umfassenden Markenfamilie, die die Branche durch ihr vielfältiges Angebot und ihr starkes Netzwerk dabei unterstützt, die technologische Entwicklung voranzutreiben. Dadurch sind gleich mehrere Veranstaltungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten an den Standorten Stuttgart, Nürnberg und München entstanden, auf denen die Akteure der Branche passgenau ihre Zielgruppe treffen.
„Wenn sich Technologien so schnell weiterentwickeln wie aktuell, braucht es Formate, die genau diesen Wandel begleiten, greifbar machen und den Austausch darüber fördern. Die ideale Verknüpfung zwischen den Themen Medizintechnik, Automatisierung und Robotik sowie Laser und Photonik schafft unser neuer MedtecLIVE Healthtech Pavilion vom 24. bis 27. Juni auf dem Leitmesse-Duo automatica/Laser World in München. Er ist die Gelegenheit, Innovationen, Produkte und Dienstleistungen zu zeigen, wertvolle Impulse zu erhalten und Kooperationen anzubahnen“, sagt Silke Ludwig, Deputy Director MedtecLIVE.
Silke Ludwig, Deputy Director MedtecLIVE © NürnbergMesse
Ergänzt wird die Kooperation durch den von Bayern Innovativ organisierten zweitägigen „MedtecSUMMIT meets automatica“ am 25. und 26. Juni. Dort erwarten die Teilnehmenden spannende Einblicke in aktuelle Pain Points der Laborautomatisierung, innovative Best Practices zur Probenverarbeitung, Datenanalyse und IT-Infrastruktur sowie Ausblicke zu aktuellen Trends. „Die Automatisierung der Labordiagnostik ist ein entscheidender Schritt in Richtung Effizienz und Präzision in der modernen Medizin. Gemeinsam gestalten wir die Zukunft der Gesundheitsversorgung – schnell, sicher und zuverlässig", sagt Julia Ott, Leitung Partnernetzwerk Gesundheit und Clustermanagerin Medizintechnik bei der Bayern Innovativ GmbH.